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Das Auto

13. Oktober 2006

Dafür bin ich mit ihm heute extra ins Grüne gefahren. Ich wollte nicht, dass es mitten auf einer hässlichen Hauptstraße geschieht.

 

Neulich war ich mit ihm beim Doktor wegen geringer atmosphärischer Störungen. Nervös war ich zunächst schon, schließlich weiß man nie.

Ich sollte vor dem Schreibtisch Platz nehmen, während der Doktor in den Monitor schaute. "Wann waren Sie denn das letzte Mal hier? Aha. 2004. Soso. Hmhm. Da haben wir die Zündkerzen gewechselt." Schaut mich über die Ränder seiner Brille streng an: "Das sollten wir aber wieder einmal tun!"

Als ich ihn wieder abholen durfte, stellte sich heraus, dass es nix Schlimmes war (Kabelbruch an der Benzinpumpe und irgendwas am Leerlaufgeber --> 68 Euro incl. Ölauffüllung), und der Doktor sagte: "Der fährt gut! Und wenn Sie ihn im Dezember wegen der TÜV-Abnahme vorbeibringen, sollten wir mal einen Ölwechsel machen und mal alles schön säubern."

Klingt doch gut.

 

16. Oktober 2006

Ich habe ihn heute ins Krankenhaus eingeliefert.

Kammerflimmern.

Ich mache mir große Sorgen ...

 

22. Oktober 2006,16:29

Mein Kleiner ist immer noch im Krankenhaus. Sie finden die Ursache nicht. Er wurde vorübergehend ins künstliche Koma versetzt. Am Dienstag werden neue Diagnosegeräte eintreffen. Dann sehen wir weiter.

 

22. Oktober 2006,16:45

Und wenn ich mein letztes Hemd dafür hergeben müsste: Er bekommt Einzelgarage und Chefarztbehandlung!

 

28. Oktober 2006

Am Freitag war wieder Chefvisite.

Die Lage ist sehr ernst!

Nach einer aus diagnostischen Gründen erforderlichen vorübergehenden Entfernung des Luftfilters ist er nun quasi klinisch tot. Sprang er bis dahin immerhin noch an und fuhr schleppend, so ist nun überhaupt kein Lebenszeichen mehr zu erkennen. (Steckt ein ärztlicher Kunstfehler dahinter?)

Er hängt jetzt an der Herz-Lungen-Maschine. Am Montag wird die Diagnostik fortgesetzt: Alle rund 60 Kabel werden dann einzeln überprüft werden. Ich werde wohl Haus und Hof verkaufen müssen und meine Oma dazu, um die Behandlung finanzieren zu können.

Er ist nun schon seit zwei Wochen von zu Hause weg.

 

1. November 2006, 18.30 Uhr

Meine Kollegin war heute in der bewussten Klinik, um bei ihrem die Winterpuschen aufziehen zu lassen. Ich flehte sie an, nach meinem Kleinen zu sehen, ihm liebevoll über den Kotflügel zu streichen und den Chefarzt um Auskunft zu bitten.

Nach ihrer Rückkehr berichtete sie, dass sie den Kleinen gleich auf dem Hof hat stehen sehen - ohne Nummernschilder! Dann stellte sich allerdings heraus, dass es sich dabei nur um einen ähnlich aussehenden Patienten handelte. Meiner stand im Innenraum - Gott sei Dank hat er es warm!

Dann richtete sie dem Chefarzt aus, dass ich manchmal vor Kummer weinte und ja nun schon bald seit drei Wochen jeden Morgen mit dem Bus zur Arbeit führe. Darauf habe der Doktor erwidert: "Tja, morgen vielleicht! Wir haben da etwas ausgebaut, da hat's ihn erstmal zerrissen."

Mehr konnte sie nicht heraus bekommen. Aber sie ist ja auch keine Angehörige.

Meine Nerven liegen blank!

 

1. November 2006, 22.51 Uhr

Ich würde ihn dort ja sofort rausholen und verlegen, aber er kann ja gar nicht mehr aus eigener Kraft fahren! So sehr haben sie ihn zugerichtet!

Man möge mir verzeihen, aber 16 gemeinsame Jahre sind eine sehr, sehr lange Zeit ...

:bawling:   :bawling:   :bawling:

 

1. November 2006, 23:04

Ich befürchte, mein Kleener wird bis auf Weiteres zur Seite geschoben wegen ein paar Mercedes-Benz, BMW und Porsche Cayenne!

 

2. November 2006

Es blieb leider beim "Vielleicht".

Ich bin ja sonst nicht zimperlich, wenn's ums Meckern und Beschweren geht. Aber dieser Fall ist schließlich ein spezieller und äußerst sensibel anzugehen. Wenn ich da zu pampig auftrete, lässt er es vielleicht am Kleenen aus .... Oder schmeißt ihn mir sogar unbehandelt vor die Füße!

 

3. November 2006, 19.10 Uhr

Heute morgen wieder der obligatorische Freitagsanruf in der Klinik.

"Guten Tag, hier ist Frau Luna. Wie sieht's aus, würden Sie mir zu einer Monatskarte für den Omnibus raten?"

"Tach Frau Luna. Vorhin ist er mir auf dem Parkplatz wieder zusammengebrochen. Sie brauchen einen Wagen am Wochenende!?"

"Nee, am Wochenende weniger. Aber während der Woche. Ich fahre ja nun bereits seit drei Wochen Bus und muss dafür jeden Morgen eine dreiviertel Stunde früher aufstehen!"

"Frau Luna, ich rufe Sie nachher an!"

Am Nachmittag dann die Nachricht einer Krankenschwester: "Frau Luna, Sie können Ihren Wagen abholen!"

Gleichermaßen verdutzt wie aufgeregt fahre ich hin. Das kam ja nun doch ein bisschen überraschend. Als ich das Gelände betrete (ein neuer Standort, die Klinik ist während des Aufenthaltes meines Kleenen inklusive aller Patienten umgezogen), kommt mir der Chefarzt mit ausgebreiteten Armen und wehenden Kittelschößen über den Hof entgegengeeilt.

"Seien Sie ehrlich, Herr Doktor, Sie haben ein Blech aus dem Boden geschnitten, und ich muss jetzt treten!" Er schüttelt den Kopf: "Frau Luna: Er läuft!" Geht mit mir um die Ecke, da steht er, mein Süßer, mit laufendem Motor. Mein Herz macht einen Hüpfer. Der Doc drückt mir Schlüssel und Papiere in die Hand und sagt: "Nehmensen mit, fahrense los!" Da ich dort sonst immer gleich an Ort und Stelle zahle, bin ich jetzt verwirrt. "Wie, was ...? Was war denn überhaupt?"

Er verdreht die Augen, winkt mit weit ausholenden Bewegungen ab. "Frau Luna, ich kann Ihnen gar nicht sagen, was wir da alles gemacht haben! Das könnense sich nicht vorstellen! Wir haben .... ach!" Winkt wieder mit beiden Armen ab. "Der Horst ist jetzt nochmal 18 Kilometer damit gefahren, er läuft jetzt! Haunse ab!"

"Ja, und - äh - wollen Sie denn nix dafür berechnen?" - "Nee, will ich nich. Jetzt läuft er, aber ob es so bleibt ... " Er zieht die Schultern ziemlich weit nach oben, um sie anschließend wieder fallen zu lassen.

Ich bin ein wenig irritiert, unsicher, wie ich mich verhalten soll. Sage dann artig Dankeschön, aber eben auch nicht besonders überschwänglich, weil wir ja beide nicht wissen, ob wir dem Frieden trauen sollen. "Frau Luna, wir telefonieren Montach! Sagense mir, ob er läuft!"

Vorsichtige lenke ich den kleinen Patienten vom Hof. Ja: Er ist noch ein wenig wackelig auf den Beinen. Wir fahren zum nächsten Lebensmittelmarkt, wo ich ihn bis unters Dach vollpacke. Endlich mal wieder groß einkaufen können, herrlich! Diese Gelegenheit muss ich nutzen, wer weiß, wer weiß ....

Nun steht er wieder vor meine Tür. Ein schönes Gefühl. Sorgen bleiben, aber auch eine verhaltene Freude kommt auf.

Und Irritation bezüglich des Chefarztes. Ob der hier mitliest?

 

3. November 2006, 20:07

Werde mich auf jeden Fall künftig noch intensiver bemühen, jeden Gullydeckel zu umfahren, um Erschütterungen zu vermeiden, die gegebenenfalls zu einem weiteren Kabel-Infarkt führen könnten.

Er fordert ohnehin bereits seit Jahren ein ausgesprochen filigranes Spiel zwischen Gas- und Kupplungspedal ein, das außer mir nur noch geschultes Fachspersonal berherrscht.

 

6. November 2006

*Psssssst!*

Ich will ja noch nicht zuviel sagen *dreimalaufHolzklopf*. Aber wir hatten heute morgen unsere Jungfernfahrt nach dem langen Klinikaufenthalt, und nach leichten Startschwierigkeiten brummte er tapfer bis zu meiner Arbeitsstelle und abends auch ohne Murren wieder zurück.

 

10. November 2006

Wir hatten eine ruhige Woche. Er brummt tapfer vor sich hin.

 

20. November 2006

Schwerer Rückfall!

Musste ihn heute in eine Spezialklinik einweisen!

Glück im Unglück: Der Chefarzt dort besitzt ein ähnliches Modell, ungefähr genauso alt! Er wird sich persönlich um mein kleines Sorgenkind kümmern. Das gibt mit eine gewisse Sicherheit, dass sich mein Kleiner dort in guten, liebevollen Händen befindet. Zudem hat der Chef bereits eine erste Ferndiagnose abgegeben, nachdem ich telefonisch die Symptome durchgegeben hatte. Das ließ für mich den Rückschluss zu, dass sich dort kompetentes Fachpersonal um meinen Kleinen kümmern wird.

Schon morgen soll ein Bulletin erfolgen.

Es besteht also weiterhin Hoffnung!

 

21. November 2006

Doch noch keine Diagnose heute.

Aber ich führe das Ausbleiben von Informationen darauf zurück, dass sich das Spezialklinikpersonal besonders große Mühe mit dem Kleenen gibt und nicht vorschnell handeln möchte!

Von der Entwicklung der letzten Wochen leite ich keineswegs beunruhigende Prognosen für die Zukunft ab. Wir - der Kleine und ich - sind bisher lediglich unwissenden Kurpfuschern aufgesessen. Jetzt aber befinden wir uns in der Obhut einer Koryphäe!

 

22. November 2006, 19.37 Uhr

Keine guten Nachrichten.

Die Operation soll an die 600 Euro kosten.

Ich würde sie aber auf jeden Fall bezahlen.

 

22. November 2006, 19.46 Uhr

Klammere ich?

 

23. November 2006

Es ist soweit.

Der Professor hat es mir sehr schonend und einfühlsam beigebracht. "Ich weiß, wie Sie jetzt fühlen. Da wird einem das Herz schwer, und man möchte sich nicht trennen. Aber irgendwann ist der Zeitpunkt gekommen. Und er hat doch ein schönes Alter erreicht."

Neben dem aktuellen Hauptschaden - einer defekten Drosselklappe - hat die von mir erbetene gründliche Untersuchung noch folgendes ergeben:

Scheinwerfer rechts von innen feucht

Lenkstange ausgeschlagen

Antriebswellenmanschetten porös, teilweise offen

Getriebe verliert Öl

Kühler verliert Flüssigkeit

Bremsleitungen Mitte und hinten defekt

Keilriemen rissig

Bremsscheibenbelege müssen erneuert werden

Gesamtreparaturkosten: 1.200 Euro.

Er hat mir angeboten, den Kleinen gleich dort zu lassen. Sie würden ihn kostenlos - *schluck* - "wegbringen".

Am Montag werde ich nochmal hinfahren, um die Papiere abzugeben und meine Sachen 'rauszuholen. Den Stieraufkleber lasse ich drauf. Ist ja seiner. Habe ich ihm ja extra aus Andalusien mitgebracht ...

 

26. November 2006

Sollte ich eigentlich vorher noch das Autoradio und die 4 Boxen ausbauen (lassen), oder ist das Quark? Immerhin sind die ja auch schon 16 ...

 

27. November 2006

Heute habe ich ihn einschläfern lassen. Als sie mir das leere Halsb.. - äh - die leere Hülle, in der sich vorher die Papiere befanden, zurückgaben, habe ich sehr geweint.

 

Der kleine Patient

 


Der kleine Patient
auf seiner letzten Mission
während der Fußball-WM 2006

 

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