Eigentlich wollte ich nur einkaufen. Dann drückt
mir eine Dame einen Stadtplan mit Laufkarte in die Hand und erklärt mir:
“Wenn Sie zehn Stempel einsammeln, gibt es eine Goldmedaille, für acht
Stempel bekommen Sie Silber, und für Bronze brauchen Sie vier Stempel.”
Die
ganze Stadt ist gefüllt mit Turnvereinen, hauptsächlich Kindern. Bei
allerschönstem Wetter wird in Braunschweig über Pfingsten das
Niedersächsische Landesturnfest gefeiert. Überall in der Stadt wird an
zahllosen Ständen Kindern und Erwachsenen die Möglichkeit geboten, sich
sportlich zu betätigen und diverse Sportarten kennen zu lernen.
Mich packt der Ehrgeiz. Eine Bronzemedaille könnte
ich ja durchaus einmal anstreben. Ich sehe an mir herunter: Bequeme
Kleidung, flache Sandalen …. das passt schon mal. Ich erreiche die erste
Station: Seilspringen. Das heißt jetzt Rope-Skipping, und ich werde
definitiv nicht mitspringen. Jedenfalls nicht jetzt: Es sind gerade
ausschließlich Kinder am Start, die mir höchstens bis zur Hüfte
reichen. Und gleich nebenan ein mit schaulustigen Männern vollbesetztes
Straßencafé.
Fangen wir doch besser mit Indoor-Cycling an. So
wird inzwischen das Radeln auf dem Heimtrainer bezeichnet. Es stehen 40
Geräte davon bereit, und drauf sitzen - 39 Kinder. Aber
egal,
jetzt wird nicht weiter rumgezickt, sonst wird das heute nichts mehr mit
der Medaille. Vorne steht ein Einpeitscher, der richtig Speed macht! Nach
fetziger Musik von den Gipsy Kings sollen wir zunächst rhythmisch und
zügig in die Pedale treten. Dann folgt eine Bergetappe, bei der die
Fahrräder auf starken Widerstand eingestellt werden. Wir müssen
abwechselnd im Stehen und im Sitzen fahren und uns in die Kurven legen.
Nach 15 Minuten tropft mir der Schweiß von der Stirn, und mein Kreislauf
steht kurz vor dem Kollaps. Aber ich habe meinen ersten Stempel.
Draußen habe ich zunächst die Wahl zwischen
Eierlaufen und Badminton ohne Schläger. Bis
ich
Biathlon entdecke! Ich lege mich bäuchlings auf eine Matte und lasse mir
das Lasergewehr erklären. Fünf schwarze Punkte muss ich abknallen, die
bei erfolgtem Treffer grün werden. Peng, peng, peng, peng, peng: Fünf
Treffer. Jetzt dasselbe noch mal im Stehen. Aber es ist mir unmöglich,
Kimme und Korn ruhig zu halten! Nach drei verpatzten Schüssen nimmt mir
der Helfer das Gewehr ab: “Sehen Sie, wie schwer das ist? Aber Sie
bekommen Ihren Stempel trotzdem.” Der zweite Teil des Biathlons - das
Laufen - fällt glücklicherweise aus. Ich hätte peinlicherweise einmal
um ein Denkmal herumrennen müssen, aber dafür ist es inzwischen zu voll
auf dem Platz.
Ich suche auf meiner Laufkarte nach weiteren
Disziplinen mit möglichst geringem
Peinlichkeitsfaktor.
Das Absingen des Turnfest-Liedes "Wir sind die Turn-Tiger" in
einer historischen Straßenbahn kommt für mich nicht in Betracht. Aber da: Krafttest! Ich betreibe ja regelmäßig Kraftsport, daher werde ich
bei dieser Übung hoffentlich eine anständige Figur abgeben. Ich lege
mich auf eine Bank, über mir schwebt die Stange mit den Gewichten an
beiden Enden. Ein kräftiger Mann hebt sie aus ihren Halterungen und gibt
sie mir in die Hände, meine Arme sind gebeugt. Nun soll ich die Stange
über meiner Brust nach oben drücken. Klappt! “Wollen Sie noch mehr
Gewicht?”, fragt mich der Mann. Ich: “Klar!” Er schiebt zwei weitere
Scheiben drauf, dann drücke ich die Stange erneut nach oben. Jetzt
schwankt sie bedenklich über meiner Brust, und ich bin froh, als ich sie
mit Unterstützung der kräftigen Männerarme wieder in ihre Halterung
legen kann. Dritter Stempel.
Gleich nebenan wird Sport-Stacking angeboten. Ein
aus den USA stammendes Spiel, das in Deutschland gerade erst als Sportart
anerkannt wurde. Kleine Kinder stehen an Tischen und stapeln in Windeseile
farbige Plastikbecher zu Pyramiden und lassen die Bauwerke genauso
schnell
wieder verschwinden. “Das koordiniert die beiden Gehirnhälften, genau
wie beim Klavierspielen”, erklärt mir ein junger Mann. Die Abfolge, mit
welcher Hand man welche Becher greift und stapelt, ist daher zunächst
auch ungewohnt. “Jetzt rattert es in Ihrem Kopf”, meint der junge
Mann, während ich mit der rechten Hand nach links und mit der linken Hand
nach rechts greife. Aber vor allem rattert es deshalb, weil ich mir
bewusst bin, dass ich gleich Bronze haben werde! Aber: Pech. Dies ist nur
ein Info-Stand, den Stempel bekomme ich beim Turnier-Stand in der
Stadthalle.
Da ich da aber sowieso hinmuss, um mir meine
Medaille abzuholen, mache ich mich auf den Weg. Komme noch mal beim
Seilspringen vorbei. Das Straßencafé ist imme
r
noch voll, und es springen immer noch nur Kinder. Aber: Sie haben sich
wegen der großen Hitze inzwischen in eine dunkle, schattige Ecke
verzogen. Das ist akzeptabel. Ich reihe mich also artig in die Schlange
der Wartenden ein.
Eine Übungsleiterin und ein Kind schwingen ein
großes Seil, und wir Teilnehmer müssen ‘reinlaufen, 15 mal springen
und wieder ‘rauslaufen. Je mehr ich in der Reihe nach vorn rücke, desto
größer wird mein Lampenfieber. Vor mir dreht sich ein kleines Kind um,
guckt zu mir hoch und sagt: “Eigentlich müssen Sie aber vorher noch 20
mal mit dem kurzen Seil springen!” - “Das mache ich dann anschließend”,
verspreche ich. Dann renne ich los, verheddere mich nicht, und springe.
Ist das anstrengend! Das kleine Kind, das das Seil für mich schwingt,
guckt mich mit großen Augen ernst an. Wahrscheinlich bin ich lila im
Gesicht. Während ich anschließend 20 mal mit dem Kurzseil
springe,
stehen alle Kinder um mich herum und gucken zu. Das ist mein moralisch am
schwersten verdienter Stempel.
In der Stadthalle angekommen, hängt mir eine sehr
nette Dame in Braunschweiger Tracht meine Medaille
feierlich um und gratuliert mir, eine weitere Dame schießt ein Siegerfoto von mir.
Und ich bin tatsächlich ein wenig stolz!
Derart festlich dekoriert gehe ich endlich einkaufen.
Brot, Eier, Schinken ... und zwölf Stacking-Becher - denn die haben es mir
irgendwie angetan …