Als
die Anfrage des Kollegen kommt, überlege ich kurz: Bin ich bin in diesem
Jahr überhaupt schon gelaufen? Na ja, vielleicht ein-, zweimal im
Frühjahr. Aber davon weiß mein Körper inzwischen längst nichts mehr.
Es ist inzwischen September.
In
zehn Tagen soll ein Staffel-Marathon stattfinden, auch unser Unternehmen
hat zwei Mannschaften - bestehend aus jeweils sieben Läufern - gemeldet.
Jetzt musste jemand absagen, und es wird dringend nach Ersatz gesucht.
Jeder
Läufer hat 6 km zurückzulegen - eine Etappe, die ich zwar gewohnt bin zu
bewältigen - wenn ich denn mal laufe. Aber: Ich laufe langsam!
Habe bei einem Sportarzt einmal genau bestimmen lassen, mit welcher
Herzfrequenz ich laufen soll: 130. Und die erreiche ich bereits, wenn ich
locker eine Treppe hochmarschiere.
Mit
meiner Langsamkeit würde ich in der Gesamtauswertung die komplette
Mannschaft in den Abgrund reißen. Ich werde erfahrungsgemäß 50 Minuten
benötigen, bei den anderen - geübten - Läufern aus der Mannschaft ist
die Rede von "30 plus x". Andererseits: Ohne meine Teilnahme
könnten sie überhaupt nicht starten. Also sage ich zu mit dem Hinweis
auf mein Schneckentempo und der Bedingung, mir das Ganze übers Wochenende
nochmal überlegen zu dürfen.
Tempo
Fürs
Wochenende steht nämlich Training auf dem Plan. Ich laufe ab sofort ohne
Plusmesser, nur nach Tempo. Sofern bei mir überhaupt von "Tempo"
die Rede sein kann. Ich laufe so, dass mein Herz schneller schlägt als
bei dem gewohnten, moderaten 130er Puls, aber auch nur so schnell, wie ich
glaube, es gesundheitlich vertreten zu können. Sehstörungen sind
zusätzlich zum erhöhten Herzschlag ein deutliches Zeichen, dass ich
schneller laufe, als der Arzt erlaubt. Ich halte die Runde aber durch und
sehe am Schluss gespannt auf die Uhr: Hah! 40 Minuten!
Wieder
zu Hause angekommen, schreibe ich, solange ich noch unter dem
euphorisierenden Einfluss des in meinem Blutkreislauf zirkulierenden,
selbst produzierten Dopamins stehe, schnell eine Mail an meinen Kollegen:
"Bin dabei! 40 Minuten!"
Noch
zweimal laufe ich die Strecke und kann mich dabei sogar noch weiter
steigern: 39:35 und 38:45! Wenn ich am Wettkampftag mit einer Zeit
abschneiden könnte, bei der eine 3 vorne steht, wäre ich also zufrieden!
Lampenfieber
Tag
x ist da! Lampenfieber meldet sich. Von den 7 Läufern
meiner Mannschaft bin ich Nummer 5. Start und Ziel befinden sich in einem
kleinen Stadion, die Strecke selbst führt um einen See. Mir wird eine
Startnummer ausgehändigt, die ich an meinem Mannschaftsshirt befestigen
soll. Ich habe zuvor noch nie ein Mannschaftsshirt getragen. Und auch
keine Startnummer. Jetzt wird mir langsam mulmig!
Zunächst
gilt es aber, die Läufer, die vor mir dran sind, ordentlich auf die
Strecke zu bringen und vor allem lautstark zu bejubeln, wenn sie nach
getaner Arbeit in das Stadion wieder einlaufen. Ich bin teilweise
erschrocken, was 35 Minuten aus einem Menschen machen können, und atme
tief durch.
Einer
aus unserer Gruppe führt genau Buch, notiert Start- und Zielzeiten der
einzelnen Läufer und kann jederzeit Auskunft geben, in wieviel Minuten
der nächste Läufer im Stadion zurück erwartet wird. Danach richten sich
nicht nur die Applaudierenden, sondern auch die Läufer, die als nächste
dran sind. Denn sie müssen sich rechtzeitig auf die Startposition
begeben, um den Staffel-Stab entgegen zu nehmen.
Luna rennt
Und
genau da stehe ich jetzt. Vor Aufregung natürlich viel zu früh. Nach unruhigen 10
Minuten sehe ich meinen Kollegen endlich ins Stadion laufen.
Schweißgebadet und rotgesichtig überreicht er mir mit ernster Miene den
Stab. Ich trabe los und fühle mich beobachtet. Die Kollegen gucken
bestimmt! Beschließe, mal am Anfang einen kleinen Spurt hinzulegen - wenn
ich außer Sichtweite bin, kann ich das Tempo ja wieder drosseln. Gedacht,
getan. Ob das alle so machen?
So. 6
km liegen vor mir. Ich laufe mit erhöhtem Herzschlag, wie ich es in
meinen wenigen Trainingseinheiten ausprobiert habe. Es ist ein seltsames
Gefühl, diese Strecke, die ich sonst auch laufe, so verändert
vorzufinden: Keine spazieren gehenden Familien, gassigehenden Hundehalter
oder Freizeitjogger, sondern überall diese durchnummerierten Athleten,
von denen mich bereits die ersten überholen.
Mir
ist klar: Die Lage ist ernst! Ich laufe heute nicht zu meinem eigenen
Vergnügen, sondern ich trage Verantwortung für mein Team! Angesichts
dieser Erkenntnis baut mein rasendes Herz zusätzlich ein paar
Panik-Stolperer ein, und ich laufe schneller.
Wassser!
Was
ich aufgrund der Ausschreibungsunterlagen bereits weiß: Nach der Hälfte
der Strecke gibt es einen "Verpflegungspunkt"! Dieser Begriff
und das Bild, das ich damit verbinde, haben es mir von Anfang an angetan!
Große, weite Welt! New-York-Marathon! TV-Übertragung! Menschen am Ende
ihrer körperlichen Kräfte greifen verzweifelt nach der letzten Rettung:
einem Becher Mineralwasser!
Nicht,
dass ich nicht 6 km ohne einen Schluck Wasser laufen könnte - das hat ja
bisher auch immer prima ohne geklappt. Aber dieses Mal muss es einfach
sein! Einmal im Leben keuchend nach so einem Becher schnappen, ihn
austrinken und anschließend rücksichtslos in die Landschaft schmeißen!
So
ähnlich hat der Läufer vor mir wohl auch gedacht. Die jungen Leute am
Verpflegungspunkt recken uns mit ausgestreckten Armen die Wasserbecher
entgegen, und er brüllt: "WASSER!!!!!!!!" Nicht schlecht. Gute
Performance!
Ich
selbst bin etwas enttäuscht. Man kann das Wasser gar nicht im vollen Lauf
trinken, weil alles überschwappt. Das Tempo möchte ich aber nicht
reduzieren. Also nehme ich nur ein paar Schluck. Und dann … darf man den
Becher doch nicht einfach ins Gelände werfen, sondern muss in
einen Pappkarton treffen. Tja, es ist eben doch nicht alles so, wie es
einem im Fernsehen vorgegaukelt wird.
Jetzt
ist also die zweite Halbzeit eingeläutet. Und frisch gestärkt kann ich
sogar punkten: Ich kann zum ersten Mal jemanden überholen! Allerdings: Er
läuft nicht, er geht. Hält sich in gebückter Haltung die Seite.
Endspurt
Nach
absolvierten 4 km bin ich der Meinung, dass es Zeit wird, über meine
weitere Strategie nachzudenken. Mein Herz rast, mein Sehvermögen ist
getrübt. Soll ich noch eine Schippe drauflegen? Schließlich wartet wahrscheinlich bereits jetzt mein Kollege an der Startlinie und starrt auf
den Eingang des Stadions. Meine Beine sind nicht müde, die könnten ohne
Weiteres viel schneller rennen. Aber was sagt mein Herz dazu? Und würde
ich auch blind zurück ins Stadion finden?
Ich
entschließe mich, jetzt einen Zahn zuzulegen, 1 km vor dem Ziel aber
wieder auf die Bremse zu treten, um am Ende optisch einigermaßen
aufgeräumt ins Stadion einzufedern. Frau muss ja schließlich auch an die
Fotos denken!
Die
Streckenposten vor dem Eingang zum Stadion verursachen klatschend und
trötend einen Höllenlärm. Ich drehe mich um: Ausnahmsweise keiner da,
der zum Überholmanöver ansetzt. Sie meinen mich. Ach herrje!
Lampenfieber! Ich laufe durch ein kleines Tor, bin auf der Zielgeraden, da
stehen auch schon meine jubelnden und klatschenden Kollegen, und der
Stadionsprecher begrüßt mich über Lautsprecher: "Da lacht sie, die
Luna!"
37:40
Min!
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